Ab 1066 beginnt das Recht, das die Engländer später in die USA einschleppten.
Die Abkömmlinge der Angelsachsen lachen sich tot, wenn sie das amerikanische Recht als angelsächsisch bezeichnet hören. Die Engländer sind nämlich mit ihrem Recht viel weiter als die Amis, die auf die Entwicklungen von 1066 bis 1776 so stolz sind. Als die Königin 2007 in Jamestown vorbeischaute, beeilten sich die Anwälte Virginiens, ihr die Huld zu erweisen - sie haben das Recht Altenglands sorgsam gepflegt. Wie manche Insel in der Chesapeake Bay noch heute Elisabethanisches Englisch spricht, sprechen die Gerichte Virginias anachronistisch Recht. Sie unterscheiden sich oft sehr von den 55 anderen Rechtskreisen in den USA. Und jeder dieser Kreise hat mit den anderen einiges, doch längst nicht alles gemein. Warum? Geduld, bitte!
Kapitel 1: Common Law
Teil 1: Der Reitende Richter
Teil 2: Case Law plus
Kapitel 2: Equity
Kapitel 3: Recht undurchsichtig
Kapitel 4: Die Hexe und der
Handelsreisende
Kapitel 5: Das englische Recht
landet in Amerika
Teil 1: Von Kolonien zum
machtlosen Bund
Wie die Germanen ihre Nachbarn unter der Dorflinde beurteilten, so trafen sich die englischen Dörfer unter ihrer Eiche oder Linde zur Rechtsprechung. Die streitende Kundschaft muss antanzen. Das Dorf sitzt gespannt im Kreis. Die Streithähne und das Dorf kennen sich. Jeder kennt jeden. Alle sind Peers. Das Dorf ist die Jury der Peers der Streithähne.
Lektion 1: Die Jury und die Parteien sind Peers.
Der Tanz beginnt. Im Kreis fechten die Parteien ihren Streit aus. Handgreiflich.
Wer als erster stirbt, muss wohl Unrecht gehabt haben, schrieb die Richterin. Er verliert den Prozess. Das Dorf fällt sein Urteil und erklärt den Sieger. Fall gelöst.
Die nächsten bitte.
Das System funktionierte. Aber das Dorf dünnte aus. Etwas brutal wirkte das Regelwerk auch. Also ersann man Anspruchsgrundlagen und Entschädigungsregeln. Die durften die Parteien vortragen. Das Dorf als Jury der Peers entschied dann, wer Recht hatte. Handgreiflichkeiten und Selbsthilfe waren bald verpönt.
Von Dorf zu Dorf fielen unterschiedliche Entscheidungen, weil ja jede Gruppe von Peers über ihresgleichen weitgehend nach eigenen Vorstellungen urteilte. Das Königreich schritt ein und schickte Richter durch's Land.
Wenn sich die reitenden Richter ankündigten, gab's Gerichtstermine, gegen Vorkasse fürs Königreich. Das Dorf eilte zur Eiche. Die Streithähne wurden geladen oder beigeschleppt.
Wer richtete? Die Peers bestimmten weiterhin. Das Recht soll der Dorfgemeinschaft gemeinsam und gleich sein: Common Law. Es sollte von Gleichen, nicht dem Adel oder Juristen, gesprochen werden: Peers. Der Richter sprach danach das Urteil. Kamen ihm die Peers spinnig vor, durfte er anders als die Peers urteilen. Er hatte das letzte Wort. Die Jury erließ ihr Verdict. Der Richter sprach das Urteil, Judgment.
Lektion 2: Die Jury spricht das Verdikt. Der Richter fällt das Urteil.
Das ist in Amerika noch heute so. Die Presse, nicht nur in Amerika und Deutschland, macht viel Aufhebens um den Spruch der Geschworenen. Zehn Millionen Dollar für den heißen Kaffee, der Verbrennungen dritten Grades verursacht. Zwei Millionen Dollar für den verletzten Beifahrer, der nicht ahnte, dass ein Porsche so enorm schnell ist.
Dass der Richter das Verdikt auf Antrag der Parteien überprüft und später ein Urteil verkündet, das mit dem Verdikt nichts gemein hat, erfährt die Fachpresse, nicht der Schlagzeilenleser. Wie in Deutschland glauben dann Millionen Amerikaner an Fehler im System.
Unternehmer denken, sie sollten lieber nicht in die USA exportieren. So leben Vorurteile gegen das amerikanische Recht länger als die Vor-Urteile der Geschworenen, die ja kein Urteil bedeuten.
Lektion 3: Das Dorf aus Peers beurteilt die Lage; der Richter spricht das Urteil: Heute noch in Amerika.
Die Peers sind nicht nur die Gleichen, die Gleichartigen, die gleichrangigen Dorfbewohner. Sie sind auch die Commoners, das gemeine Volk, die Durchschnittsbürger. Eben die, die nicht dem Adel angehören. Als Commoners besitzen sie Common Sense. Den gesunden Menschenverstand sollen sie in ihre Würdigung einbringen.
Sie bestimmen ihr Common Law. Die Parteien tragen ihnen ihre Fakten, ihre Beweise und ihre Rechtsansichten vor. Die Dörfler entscheiden. So entwickelten sie ihr Recht. Was vorher einmal galt, gilt später in vergleichbaren Fällen wieder. Ganz logisch.
Die reitenden Richter brachten einen weiteren Vorteil: Sie wussten, wie in anderen Dörfern und in Revisionen an Obergerichten entschieden worden war. Das Wissen konnten sie an die Dörfler weiterreichen. So verbreitete sich das Recht, und so wurde es einheitlicher in den Bezirken, die die Richter beritten.
Lektion 4: Die Beachtung der Präzedenzfälle und der Entscheidungen höherer Gerichte heißt Stare Decisis.
Noch heute erklärt der Richter in Amerika den Geschworenen das anwendbare Recht: Die Jury Instructions werden zwischen den Parteien verhandelt. Der Richter entscheidet, welche Erklärungen er der Jury gibt. Liegt er schief, kann es zur Fehlentscheidung der Jury kommen. Fehlentscheidungen sollten mit dem Urteil nach dem Verdikt, spätestens jedoch in der Revision korrigiert werden.
Die reitenden Richter trugen nicht nur die Rechtskenntnisse durchs Land, die die Peers benötigten. Ihre zweite Aufgabe lag in der Prozessführung. Das Verfahren sollte gerecht sein.
Als Zeremonienmeister braucht ein Judge meist nicht viel zu sagen. Im Vergleich zum heutigen deutschen Richter ist der amerikanische Richter nahezu aufgaben- und sprachlos. Und doch gilt er als Hoheit, vor die die Parteien und Anwälte mit enormen Respekt treten.
In Amerika ist das immer noch so. Der Richter leitet das Verfahren. Die Gerechtigkeit mag leiden, aber der prozessuale Ablauf der Gerichtsbarkeit stimmt. Die Amerikaner hatten dafür gleich mit ihrer Bundesverfassung gesorgt, als sie sich revolutionär von England trennten. Dann bauten sie die prozessuale Gerechtigkeit weiter aus, indem sie Verfassungszusätze anfügten. Der bekannteste ist der Vierzehnte über Due Process of the Law. Ihm entspricht im deutschen Grundgesetz etwa Artikel 19 IV, das Rechtsstaatsprinzip.
Lektion 5: Die prozessuale Gerechtigkeit ist wichtiger als die materielle Gerechtigkeit.
Was geschieht, wenn der reitende Richter im Dorf erscheint und den Dörflern das auf die Streithähne zutreffende Recht erklärt, und die Dörfler es anders sehen?
Stäre Diceißis! Oder im Originalton amerikanischen Lateins: Stare Decisis! Das einmal Gesprochene gilt. Es gilt als Vorbild oder Leitsatz. Es gilt als verbindlich für spätere gleichartige Fälle. Präzedenzfälle sind also für alle verbindlich und sind bei nachfolgenden Prozessen zu beachten.
Doch jeder Fall ist anders - gibt es immer einen Präzedenzfall?
Natürlich nicht. Ein Dieb klaut die Kuh aus dem Stall, ein anderer von der Wiese.
Der Dritte führt sie mitten im Dorf aus der Allmende fort. Einer melkt sie für seine dürstenden Kinder und bringt sie zurück. Der Zweite leitet sie ins Nachbardorf zum Bauern, der ihm den Auftrag zum Abholen des gekauften Viehs erteilte - niemand bemerkte die Verwechslung. Die dritte Kuh wird verwurstet.
Die Jury des Dorfs findet eine Antwort, auch wenn der reitende Richter keinen passenden Präzedenzfall mitbringt. Die Peers entwickeln das Common Law weiter, nachdem sie ihre Jury Instructions vom Richter erhalten haben. Ihr Kuh-Verdikt kann in seinem ganzen Bezirk vorbildlich und verbindlich wirken.
Die New Yorker Richterin erklärt beispielhaft, dass die Peers so das Recht von Assault und Battery entwickelten. Diese Tatbestände der Einschüchterung durch Androhung einer Berührung und der Ausführung einer Berührung galten zunächst strafrechtlich und zivilrechtlich. Im Strafrecht gelten sie fast unverändert weiter: Der Täter kann von einer Jury verurteilt und bestraft werden. Im Gegensatz zu 1066 braucht er jedoch nicht mit dem Ankläger zu kämpfen, bis einer tot unter der Dorflinde liegt.
Im Zivilrecht entwickelte sich aus diesem Recht der Schadensersatzanspruch.
Auge um Auge als Vergeltung kam nicht mehr in Frage. Ersatz durch Geld erwies sich als funktionierende Alternative. Schadensersatz, Damages, wurde die primäre Rechtsfolge im Common Law, sowohl für Torts als auch für Verträge. Im deutschen Recht spielt der Schadensersatz auch eine Rolle, doch steht neben ihm die Erfüllung von Pflichten, die Leistung oder die Nachbesserung.
Von Assault und Battery leiten sich alle Torts, die im deutschen Recht als unerlaubte Handlungen bezeichnet werden und in mancher Beziehung weiter als im amerikanischen Recht gehen, ab. Aus dem Grundsatz des Schadensersatzes erwuchs im Laufe der Zeit die Entschädigung für nichtkörperliche Schäden: Schadensersatz für Sachschaden. Schadensersatz für verletzte Gefühle: Schmerzensgeld. Schadensersatz für Folgeschäden, beispielsweise Geschäftsverluste.
Als Trumpf - aus deutscher Sicht als Schreckgespenst - kam sehr spät, und zwar erst im Amerika des 20. Jahrhunderts, der Strafschadensersatz hinzu. Die Punitive Damages sollen abschreckend wirken, wenn die Jury die unerlaubte Tat für nicht nur rechtswidrig, sondern geradezu verwerflich hält.
Lektion 6: Schadensersatz ist die vorrangige Rechtsfolge im Common Law.
Die Verwerflichkeit stellte die Jury beim heißen Kaffeeunfall fest. McDonalds hatte aus ihrer Sicht einen finanziellen Denkzettel verdient. Nicht nur hatte das Unternehmen die Anregung des Ehemanns der verbrannten Frau ignoriert, die Kaffeegeräte zu prüfen und sicher einzustellen, damit nicht weitere Kunden verletzt würden. Das Unternehmen hatte auch 700 andere Verbrennungsfälle ignoriert.
Da die Jury diese Gefährdung der Kundschaft für verwerflich hielt und ein abschreckendes Signal setzen wollte, sprach sie über die Entschädigung für Hauttransplantate mit teurer Arzt- und Krankenhauspflege, die sich die meisten Amerikaner gar nicht leisten können, hinaus auch Strafschadensersatz zu.
So erreichte das Verdikt der Geschworenen die Millionenhöhe, über die die Presse als Sensation berichtete. Die schwerverletze Frau sah diesen Betrag nie, weil ein Fall nicht mit dem Verdikt endet.
Wie wir wissen, folgt dem Verdikt das richterliche Urteil, das den Spruch der Jury korrigieren darf, sowie die Revision. Die Verletzte wurde also nicht reich, auch wenn sie bei ihresgleichen, den Peers, auf Verständnis stieß.
Der Extrembetrag wirkte in anderer Weise: McDonalds stellte die Kaffeegeräte sicherer ein, sodass die Kundschaft vor weiteren Verbrennungen geschützt war.
Der Unternehmerverband sah sich durch das Verdikt veranlasst, in intensiver Lobbyarbeit das Recht durch Gesetze zu ändern, um Schadensersatzbeträge zu kappen.
Das Common Law entwickelt sich also durch die Jury, doch nicht nur durch sie.
Fortsetzung