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Samstag, den 16. Sept. 2017

USA-Recht für Jedermann: Kapitel 4 - Die Hexe  

Die Hexe und der Handelsreisende: In jedem Staat anderes Recht
.   Jeder Staat der USA hat sein eige­nes Recht. Das war auch in Deutsch­land so. Dort dau­er­te es bis 1815, 1848, 1871 und 1900. Dann begann die Ver­ein­heitlichung des landesweit geltenden Rechts. Mit der Europäischen Union schwenkt das Recht in die ameri­ka­ni­sche Richtung: viele ein­zel­ne Rechts­ord­nun­gen in Europa unter gemeinsamen Re­geln.

Bei den gemeinsamen Regeln hapert es al­lerdings in den USA. Vor der Bun­des­ver­fassung gab es nämlich in jeder Ko­lo­nie des Landes vollständig ent­wickel­te Rechtsordnungen sowie Ge­richts­bar­kei­ten. Die Verfassungsväter ent­schie­den, dass sie beibehalten werden soll­ten. Vertragsrecht, Strafrecht, Sa­chen­recht, Erb­recht, Arbeitsrecht, Ge­sell­schaftsrecht, Haftungsrecht für rechts­wid­ri­ge Hand­lun­gen, Prozessrecht und der­glei­chen mehr fallen weiterhin in die Zustän­dig­keit je­den Staats sowie der sonstigen, nicht als Staat anerkannten Körperschaften wie Puerto Rico, der Marianen- und Jungferninseln und des Bundeshauptstadt­be­zirks District of Columbia, in dem Washington angesiedelt wurde.

Der Bund sollte für wenig zuständig sein. Deshalb gab es bis 1937 nur wenige Bun­des­behörden, in Washington oder sonstwo. Beim Weißen Haus stand das Ver­tei­digungsministerium, das mittlerweile das Old Executive Office Building des Präsidenten darstellt - wie das Kanzleramt in Deutschland. Zudem sollte der Bund für Zölle zuständig sein, um seinen Haushalt zu finanzieren, und für The­men wie Patent- und Urheberrecht.

Warum sollten die Staaten für nahezu alles andere zuständig bleiben, wenn man sich doch darauf verständigte, einen von England unabhängigen Staat zu bilden? Das erklärt nur die Geschichte.

In den verschiedenen Kolonien landeten Leute unterschiedlicher sozialer, wirt­schaft­li­cher und religiöser Herkunft an. Nach Virginia kamen Aristokraten, die für den Tabakanbau und sonstige Landwirtschaft billige Arbeitskräfte be­nö­tig­ten. Die konnten sie günstig aus England beziehen. England hatte seine Un­ru­hen, was die Gefängnisse füllte. Wer im Gefängnis saß oder eine Überfahrt nach Ame­ri­ka nicht bezahlen konnte, verdingte sich als temporärer Sklave, inden­tu­red Servant, mit dem Versprechen, nach sieben Jahre die Freiheit zu gewinnen.

An der Nordküste siedelten sich Engländer an, die sich nach Religionsfreiheit sehn­ten, allerdings diese Freiheit in einem von Ort zu Ort unterschiedlichen Sin­ne sa­hen. Sie besiedelten Neu-England und führten teilweise puritanische Re­geln ein, anderenorts striktere, manchenorts lockerere - und begannen, sich we­gen Un­terschieden im Religionsverständnis gegenseitig zu misstrauen. Diese Frei­heit bedeutete nicht Toleranz, sondern meist strikte Beachtung, also In­to­le­ranz ge­genüber Gruppenfremden. Daher konnte sich manche Frau nicht si­cher sein, im Nachbarort oder -kreis nicht als Hexe verbrannt oder ertränkt zu wer­den. Und der Han­delsreisende konnte nicht darauf bauen, dass sein Vertrag einen Kreis wei­ter auch er­füllt werden würde. Erst recht nicht, dass ein dortiges Ge­richt dem Frem­den zu seinem Recht verhelfen würde.

Nach Pennsylvania zogen Quäker und Pfälzer und kamen scheinbar in fried­li­cher Harmonie miteinander klar. Allerdings scherten sie sich nicht sonder­lich um den Staat, sondern legten Wert darauf, ihre privates und wirtschaft­li­ches Le­ben möglichst ohne staatliche Mitwirkung und statt dessen nach Grup­pen­re­geln zu gestalten.

Maryland zog Deutsche und Iren an, die dem Staat mehr Respekt erwiesen und eine gewisse Ordnung erwarteten - oder sich zumindest darauf einstellen konn­ten. Klare Regeln - praktisch. Sie waren mehrheitlich katholischen Glaubens und damit etwas progressiver, was sich auch auf ihre Rechtsfortbildung aus­wirk­te und noch heute in krassem Gegensatz zum antiquierten Recht Virginias auf der anderen Seite des Potomac steht.

Im Süden gab es Regionen mit französischen oder spanischen Traditionen, so in Florida, Louisiana, Texas und Südkalifornien. Auch diese wirkten sich auf die Er­war­tung der Völker an ihre Gesetzgeber und damit auf die Gestaltung des Rechts aus. Während die meisten Staaten der USA beispielsweise ihr Wirtschafts­ver­trags­recht mit einem Mustergesetz namens Uniform Commercial Code ver­gleich­bar ge­stal­tet haben - selbst wenn dieses Recht in wichtigen Punkten un­ter­schied­lich bleibt -, gilt in Louisiana weiterhin ein völlig abweichendes Ver­trags­recht nach französischem Vorbild.

In den Appalachen vom hohen Norden bis weit in den Süden blieben Siedler auf Berghöhen und in engen Tälern hängen. Bis heu­te ist den Hin­ter­wäld­lern das Recht auf eigene Waffen zur Abwehr von Außen­­sei­tern wichtiger als der Staat, der anfangs kaum eine Polizeikultur und -infrastruktur bieten konnte. Ähn­li­ches gilt im Wilden Westen, jenseits des von Deutschen und Skandinaviern ge­prägten Mittelwestens, wo man Recht und Ordnung erwartet, doch von jedem Bür­ger auch die Fähigkeit, sich selbst zu versorgen und in weitverstreuten, klei­nen Ge­mein­den miteinander zurecht zu kommen. Abhängigkeit vom Staat, wie sie in den großen Städten der Ostküste früh zu bemerken war, gehört nicht zu ihrem Sozial- und Rechtsverständnis. Der Staat, von dem man nichts verlangt, soll sich auch nicht unnötig in lokale Belange einmischen.

Eskimo- oder Indianertraditionen sind dabei nicht erkennbar, jedenfalls nicht aus Washingtoner Sicht. Auch die aus Afrika gebrachten und verschleppten Bür­ger der USA hatten keinen eigenen Einfluss auf das Recht. Doch reagierte das Recht auf ihre Existenz in perverser Weise. Sie galten teils als Sachen, teils als Nicht­bür­ger. Dabei war zumindest die Sklaverei aus einem moralisch frag­wür­di­gen, doch vertragsrechtlich nachvollziehbaren Konzept entwickelt worden - so­lan­ge man Sittenwidrigkeit und Menschenrecht ignoriert.

Als der Nachschub an indentured Servants aus England ausblieb, weil das Ende der gewaltigen englischen Unruhen weniger Gefängnisse mit politischen Gefan­ge­nen füllten, sahen sich die Tabak- und Baumwollbosse des Südens nach Al­ter­na­ti­ven um und beschafften nach portugiesischem und spanischem Vorbild in­dentured Servants in Afrika - ebenfalls mit dem Versprechen nach Freilassung nach sieben Jahren harter Arbeit. Das lief ganz ordentlich, und viele Afrikaner wurden Freemen in den Kolonien. Sie waren so frei wie die Weißen, und ihre Nach­fahren sind noch heute stolz darauf. Die Engländer befanden sich in da­mals moralisch vertretbarer Gesellschaft, denn auch andere Teile der Welt kauf­ten oder stahlen sich ihre Arbeitskräfte in Afrika.

Pervers wurde die Lage, als die Plantagenbesitzer nicht genug indentured Ser­vants fan­den und in der Folge den Sklavenhandel wie wir ihn heute ver­ste­hen auf­nahmen: Menschen werden gegen ihren Willen ohne Freiheits­ver­spre­chen und Lohn gefangen, verschleppt, wie Ware verkauft, wie Tiere be­han­delt, miss­han­delt und nie wieder freigelassen. Sklaven gab es im Norden wie im Süden, doch der Norden entschied sich bald - für die Sklaven selbst nicht früh genug - gegen diesen Missbrauch.

Die Einordnung von Sklaven als Sachen führte auch zu vielfältigen Rechts­ent­wicklungen in den einzelnen Kolonien und Staaten, die von der Ko­lo­ni­alzeit bis ins 19. Jahrhundert reichten und erst im letzten Viertel des 20. Jahr­hun­derts zu praktischer Abhilfe gegen rechtliche Ungleichbehandlungen einmün­de­ten.

Fazit jedenfalls: Überall war das Recht anders, bevor sich die Kolonialisten von England unabhängig erklärten und dann über ihre eigene Verfassung berieten. Die Verfassungsväter beschlossen nach harten Debatten, dass der Bund nicht das Recht der Staaten er­setzen sollte. Nur punktuell sollte er zuständig sein und selbst Recht setzen.

Allerdings gab es eine wichtige Ausnahme. Wir müssen uns deshalb bald wie­der an die Hexe und den Handelsreisenden erinnern.
Fortsetzung







CK
Rechtsanwalt u. Attorney Clemens Kochinke ist Gründer und Her­aus­ge­ber des German Ame­ri­can Law Journal in der Digitalfassung so­wie von Embassy Law. Er ist nach der Ausbildung in Deutschland, Mal­ta, Eng­land und USA Jurist, vormals Referent für Wirt­schafts­politik und IT-Auf­sichtsrat, seit 2014 zudem Managing Part­ner einer 75-jäh­ri­gen ame­ri­ka­nischen Kanzlei für Wirtschaftsrecht. Er erklärt deutsch-ame­ri­ka­ni­sche Rechts­fra­gen in Büchern und Fachzeitschriften.

2014 erschien sein Kapitel Vertragsverhandlung in den USA in Heus­sen/Pischel, Handbuch Vertragsverhandlung und Ver­trags­ma­na­ge­ment, und 2012 sein Buchbeitrag Business Nego­ti­ati­ons in Ger­ma­ny in New York, 2013 sein EBook Der ame­ri­ka­ni­sche Vertrag: Planen - Ver­han­deln - Schreiben.

Die meisten Mitverfasser sind seine hochqualifizierten, in das amerikanische Recht eingeführten Referendare und Praktikanten.