Verfassungsrechtlicher roter Faden
Wie konnte es zum Desaster im Supreme Court kommen?
CK • Washington. Etwa zwei Drittel der Amerikaner sind über ihren Supreme Court entsetzt. In 10 Tagen zerfetzte er das Netz von Grundrechten, aus dem sie ein wenig Rechtssicherheit und persönliche Sicherheit herleiten. Er nahm Frauen ein Recht auf ärztliche Gesundheitsvorsorge, ließ nahezu überall verdeckte Waffen zu, legte die Umwelt in die Hände von Schadstoffemittenden, erlaubte die Strafverfolgung auch bei fehlerhaften Selbstbeschuldigungswarnungen, bejahte die Erschießung im Todesstrafenvollzug und entzog unterrepräsentierten Wählern die Aussicht auf repräsentative Wahlbeteiligung.Wo der rote Faden zu finden ist, bleibt unerklärt. Er zeigt sich, wenn man die Entwicklung der USA seit der Kolonialzeit beobachtet. Die englischen Kolonien hatten ihre eigenen Rechtsordnungen und bestanden auf ihnen, als sie die Unabhängigkeit ausriefen, England besiegten und eine Verfassung schrieben. Diese gab dem Bund nur die darin zugewiesenen Rechte. Alle anderen Zuständigkeiten behielten die aus den Kolonien geborenen Einzelstaaten.
Bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 blieb es dabei. Als Präsident Roosevelt mit Hilfe unseres Kanzleigründers Tommy the Cork Gesetze schrieb, damit der Bund das Land rette, musste er die Bundeskompetenz mit Kunstgriffen erweitern, und seit 1936 genehmigte ihm der Supreme Court den Eingriff in die Kompetenzen der Einzelstaaten.* Seither finden sich an der Independence Avenue, Constitution Avenue und Pennsylvania Avenue die großen Bundesministerien. Sie existierten vorher nicht, weil der Bund lange die Grenzen seiner Minikompetenz respektiert hatte. Nur gelegentlich darf Bundesrecht also Landesrecht brechen.
Ende der 80-er Jahr erklärte Rufus King, Jr., der nach dem 2. Weltkrieg im Senat ein Oberjurist war, dem Verfasser als Jungjuristen in seiner Kanzlei, dass er mit einem Pendelumschwung rechne: Einige Republikaner wollten dem Bund seine neuen Kompetenzen nehmen und den Einzelstaaten zurückübertragen. King starb, bevor sich seine Ahnung bewahrheitete, aber den Kern der Idee sah man bereits im Gingrich-Vertrag mit Amerika in den 90-er Jahren.
Nun hat sie der Supreme Court dank der trump-Mehrheit verwirklicht. Frauen müssen sich an den Einzelstaat wenden, wenn sie gesundheitliche Gleichberechtigung wünschen. Wähler bleiben den Einzelstaaten ausgeliefert. Der Bund darf nicht die Umwelt schützen, nur weil Emissionen landesweit schädigen und damit eine Kompetenz aus den Verfassungsklausel über die landesweite Handelsregulierungskompetenz folgt. Man darf sich nicht auf die Bundesverfassung berufen. Nur beim Waffenrecht gilt, dass eine Sonderklausel jedem das Recht zum Tragen gibt, da der Supreme Court den Halbsatz über die Regulierung und das historische Konzept des erlaubten Waffenbesitzes zur Tyrannenabwehr ignoriert.
Der rote Faden schneidet die Entwicklung von 1936 bis 2022 ab. Das Recht in Amerika veruneinheitlicht sich noch mehr. Die seit dem 2. Weltkrieg in die Welt ausgestrahlte hoffungsvolle und freiheitliche Vorrangstellung der USA in vielen Bereichen endet. Die vielerorts ignorierten und rechtlich misshandelten Minderheiten verlieren die Hoffnung auf Besserung und Gleichstellung, und die Mehrheit muss Abschied von der Vorstellung nehmen, das sich das Land einer gemeinsamen Zukunft stellt. Es gibt ja schließlich keinen Tag der amerikanischen Einheit.